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Die Kunst des Übergangs

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Ob wir sie herbeisehnen oder fürchten, Veränderungen sind ein unvermeidlicher Teil unserer Lebensgeschichte. Der Einstieg ins Berufsleben, Hochzeit, Geburt des ersten Kindes, Umzug (eventuell in ein anderes Land oder eine andere Kultur), Berufswechsel oder der Abschied von Freunden und Verwandten. Oft ist es uns nicht bewusst, dass es sich hierbei nicht einfach nur um einzelne Ereignisse handelt, sondern um komplexe Prozesse. Zwischen dem Verlassen des alten und dem Beginn des neuen Zustands liegen zahlreiche Schritte und Herausforderungen. Deshalb spricht man treffender von Übergängen oder Übergangsphasen.

Übergänge beeinflussen unsere Wahrnehmung der Welt und die Reaktion darauf,
ebenso unser emotionales Befinden, unsere Beziehungen und unser Gottesbild. Geplante Übergänge sind in der Regel leichter zu bewältigen als die unerwarteten, die plötzlich kommen.

Wie können wir Übergänge besser verstehen und annehmen?

Wycliff Deutschland bietet für seine Auslandsmitarbeiter regelmäßig eine Reflexionswoche an. Darin beschäftigen wir uns unter anderem intensiv mit Übergangsphasen. Inhaltlich greifen wir dabei auf eine Studie von David Pollock zurück. Er hat fünf Phasen identifiziert, die universell für Menschen in Übergangssituationen gelten.

Phase 1 „Zugehörigkeit“

In dieser Phase läuft für Karl alles im gewohnten Rahmen ab. Er weiß, wo er hingehört, fühlt sich sicher, bestätigt und geborgen. Er übernimmt Verantwortung in seinen Aufgaben und Beziehungen. Sein Umfeld kennt seinen Namen. Die Phase ist geprägt von Zugehörigkeit. Seine Welt ist verbindlich und vertraut.

Phase 2 „Abschied“

Wenn Karl sich entscheidet, auf etwas Neues zuzugehen, um sich beispielsweise beruflich zu verändern, beginnt die Phase des Abschieds. Karl beginnt Verbindungen und Verbindlichkeiten zu lösen. Idealerweise gibt er seine Aufgaben und die dazugehörigen Verantwortungen an andere ab. Er erkennt, dass es auch ohne ihn läuft. Diese Einsicht kann dazu führen, dass er sich überflüssig und abgelehnt fühlt. Gleichzeitig erfährt er Anerkennung von Menschen, denen er Lebewohl sagt. Karl packt gezielt kleine Gegenstände mit Erinnerungswert in seinen Koffer, die ihm zukünftig wertvoll sein werden.

Phase 3 „Übergang“

Diese Phase ist geprägt von Ungewissheit, Chaos und Ängsten. Karl hat den alten „Rahmen“ verlassen. Er ist zwar körperlich im neuen Umfeld angekommen, emotional ist er aber noch nicht so weit. Es ist ihm noch unklar, wo und wie er einen sinnvollen Beitrag leisten kann. Noch ist er ein Unbekannter. Beziehungen zu initiieren und zu pflegen, fällt ihm schwer, und selbst kleine Aufgaben, wie Telefonate mit Ämtern, erscheinen ihm groß. Die vielen Entscheidungen, die getroffen werden müssen, überfordern ihn. Karl ist tendenziell emotional instabil, einsam und ängstlich. Sein Selbstvertrauen leidet. In dieser Situation können liebgewordene Gegenstände und Rituale hilfreich sein.

Phase 4 „Wiedereinstieg“

Karl wagt den Wiedereinstieg. Noch fühlt er sich am Rand, unsicher in seiner Position, skeptisch gegenüber den Äußerungen anderer. Er beobachtet viel und es kostet ihn Kraft, seinen Alltag zu meistern. Insgesamt fühlt sich Karl noch unsicher, ängstlich, leicht kränkbar und zerrissen. Er hat den Eindruck, nicht verstanden zu werden. In dieser Situation ist ein Freund oder Mentor hilfreich, der ihm in Alltagsfragen zur Seite steht.

Phase 5 „Neu-Engagement“

Schließlich befindet sich Karl vollständig im neuen Rahmen. Er lässt die Hilflosigkeit hinter sich und fühlt sich wieder sicher und geborgen. Er kennt seinen Wert und seine Wirksamkeit (siehe Phase 1). Karl ist reifer geworden. Hiermit finden die Übergangsphasen ihren Abschluss. Insgesamt dauern die Übergangsphasen etwa ein bis vier Jahre – abhängig von der individuellen Situation.

Die Veranschaulichung von Pollocks Ergebnissen führt bei unseren Teilnehmern oft zu Aha-Erlebnissen. Allein das Erkennen, „es geht auch anderen so, ich bin ganz normal“, wirkt wie ein kleiner Triumph und bringt Sicherheit. Damit wächst die Bereitschaft und der Mut, diese Lebensphase anzunehmen, Hilflosigkeit hinter sich zu lassen und den Weg zu Ende zu gehen. Niemand kann uns diese Schritte abnehmen, aber wir können uns Vertraute und Begleiter suchen. So durchlaufen wir bewusst diese Phasen und gewinnen an Reife.